Tod.
Oder: Warum wir das Finale unseres Lebens erfolgreich verdrängen, verleugnen und verschlafen, bis es plötzlich an der Tür klopft.
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Der Tod ist sicherlich der unpopulärste von allen Gästen auf der Party namens Leben: Keiner lädt ihn ein, keiner will ihn sehen, und meistens taucht er doch irgendwann unangekündigt auf. Wir Menschen lieben das Leben, aber sobald es um Sterben, Vergehen oder Verabschieden geht, schauen wir panisch zur Seite oder haben gerade ganz dringend etwas anderes zu tun. Verdrängen statt verdrießen, verleugnen statt verstehen, vermeiden statt verarbeiten — das ist die Strategie, die menschlicher Verstand dramatisch ignorant wie effizient wählt.
Dabei sollte uns gerade der Tod nicht überraschen: Er ist historisch belegbar das am längsten existierende Geschäftsmodell der Welt — entwickelt vor jeglicher Innovation, Erfindung oder technologischem Fortschritt. Der Tod überlebt zuverlässig Generationen, Trends und tagesaktuelle Moden; er kommt beharrlich, zuverlässig und garantiert. Trotzdem versuchen wir tapfer, ihn auszublenden, zu verbannen, auszutricksen — als wäre Sterben eine unbequeme Sonderoption statt unumstößliche Grundregel.
Besonders ironisch: Wir sind alle von Geburt an sterblich, wissen das, verdrängen das aber trotzdem konsequent beeindruckend. Wir leben, als ob wir täglich unendlich oft „Replay” drücken könnten. Wir arbeiten, kaufen, konsumieren weiter fleißig, als wäre finanzielle Sicherheit allein adequate Antwort auf das unausweichliche Finale. „Fürs Alter vorsorgen!” heißt heute: Rentenversicherung statt Realität akzeptieren, Aktienbörsen statt Abschiedsvorbereitung, Karriereleiter erklimmen statt Kaffeeklatsch mit der Vergänglichkeit halten.
Natürlich hat die Angst vorm Tod durchaus nachvollziehbare Gründe: Sterben klingt erst mal unerfreulich, unangenehm, unpraktisch. Ein Abschied ohne definitive Rückkehrkarte, keine verlässliche Rezension von bisherigen Teilnehmern verfügbar — ein Ende mit offenem Ausgang, als wäre der Drehbuchautor plötzlich ratlos mittendrin ausgestiegen. Das erscheint uns wenig amüsant, sondern eher beängstigend: Menschen lieben Kontrolle, wollen Planbarkeit statt Panikattacken, Sicherheit statt Sinnfragen. Der Tod dagegen drückt statt Pause grundsätzlich gleich die Aus-Taste.
Dabei könnte gerade die Tatsache, dass unser Leben endlich ist, wirklich hilfreich sein. Ohne Tod wäre das Leben wie ein unendlicher Film ohne Abspann, wie ein Theaterstück ohne Vorhang, wie eine dauerhafte Urlaubsreise ohne Heimkehr — schön am Anfang, langweilig nach kurzer Zeit und nervig mit Dauerbetrieb. Die zeitliche Begrenzung schenkt unserem Leben Tiefe, Intensität, Echtheit. Ohne Tod wäre alles beliebig, ständig verschiebbar, niemals drängend — und vermutlich sogar extrem öde.
Doch lieber ignorieren wir weiterhin fröhlich unser Ablaufdatum, trinken, feiern, konsumieren weiter — bis der Tod plötzlich ungeschickt unerwartet vor uns steht, während wir überrascht fragen: „Schon so spät?” Bei fremdem Tod sind wir betroffen, traurig, wechseln kurz in philosophischen Modus — und gehen dann meistens weiter shoppen, arbeiten, Netflix schauen, als hätte Abschied nichts mit uns persönlich zu tun. Danach lebendig verdrängen statt aktiv annehmen.
Tod konfrontiert uns jedoch zuverlässig radikal damit, was uns wirklich wichtig, wertvoll und wesentlich erscheint. Auf Sterbebetten wird selten gejammert, man hätte gern länger im Büro gesessen oder mehr Geld auf Konto gehabt. Viel häufiger bereuen Menschen Beziehungen, Freundschaften oder Träume, die sie erfolgreich vernachlässigt, aufgeschoben oder ignoriert haben. Ironie pur: Strategisch vermeiden wir Gespräche über Tod, verpassen gleichzeitig, genau dadurch besser zu leben.
Denn erst das Bewusstsein für Tod verleiht unserem Leben Bedeutung. Faktisch gesehen wissen wir alle im Vorfeld, dass die Party des Lebens definitiv endet. Wir haben eine Einladung ohne Ablaufdatum erhalten, wissen jedoch sicher, dass sobald Tod freundlich lächelnd auftaucht und die Tanzfläche betritt, uns die Musik ausgeht. Wäre bewusste Sterblichkeit deshalb nicht sogar sinnvoll, statt blauäugiger Euphorie und unsinniger Realitätsverweigerung?
Womöglich sollten wir viel häufiger bewusst akzeptieren, dass Tod nicht nur Ende, sondern auch klarer Spiegel unseres Lebens ist: noch da sein, leben können, lachen dürfen — das ist Geschenk, Herausforderung und einmalige Gelegenheit. Keine unendliche Verlaufsverlängerung, sondern endliche, absolut begrenzte Möglichkeit.
Können wir uns vorstellen, endlich Tod zu akzeptieren statt zu verdrängen, ihn geduldig anzunehmen, statt frustriert zu vermeiden? Vielleicht könnten wir dann mutiger, wilder, intensiver leben, weil wir wissen: Keine zweite Runde, kein sicherer Reset, keine dauerhafte Sicherheitskopie für verpasste Chancen.
Vielleicht sollten wir endlich bewusst damit umgehen, dass jeder Lebensmoment kostbarer, ehrlicher und besonderer wird, gerade weil das Leben irgendwann endgültig vorbei sein wird. Anstelle dramatischer Angst könnten wir dann endlich Freiheit, Mut, intensives Erleben zelebrieren — weniger verkrampft, mehr lustvoll.
Würden wir Tod offen akzeptieren, könnten wir das Leben besser feiern, intensiver auskosten, riskanter leben — bewusst keine Sekunde ungenutzt, unbefriedigt oder unnötig vergeudet. Dann hätte Tod sogar einen positiven Nebeneffekt: Er schenkt unserem Leben Wertschätzung, Tiefe, Bedeutung — wenn wir endlich den Mut haben, ihn realistisch zu akzeptieren.
Natürlich bleibt Sterben unbequem, Tod unüberwindbar, endgültige Antworten unerreicht. Doch vielleicht könnten wir Tod endlich gelassener sehen — weniger als absolutes Drama, sondern als verlässliche Erinnerung daran, mutig, begeistert und konsequent zu leben.
Könnten wir Tod aktiv annehmen, statt furchtsam abzulehnen? Vielleicht wäre das sogar Lebenskunst.
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Maybe.
Widmung
Diese Artikelserie trägt den Titel „Maybe" nicht zufällig — sie ist meinem Großvater gewidmet, Manfred May, der am 08. März 2025 von uns ging und dessen bedeutungsvoller Nachname mich seither begleitet. Von ihm habe ich nicht nur meinen Nachnamen, sondern vor allem meinen neugierigen Blick auf unser Leben, meine Faszination für technischen Fortschritt und die Überzeugung, stets mutig nach vorn zu schauen.
Mein Opa hielt nicht viel von nostalgischer Rückprojektion — außer natürlich bei seinem übergroßen Rückprojektionsfernseher, mit dem er damals begeistert das Wohnzimmer zum Hightech-Kino verwandelte. Statt wehmütig in die Vergangenheit zu blicken, richtete er seinen Fokus immer auf die Zukunft: die neuesten Kameras waren gerade gut genug, die Instagram-Filter konnten ihm gar nicht neu und ausgefallen genug sein. Bis zuletzt blieb er offen, neugierig und am Puls der Zeit. Von seiner unermüdlichen Freude an neuen Technologien und unbekanntem Terrain habe ich gelernt, selbst keine Angst vor Veränderungen zu haben und immer weiter dazuzulernen.
Lieber Opa,
du hast mir bis zum Schluss gezeigt, dass das Leben nichts ist, vor dem man sich verstecken sollte — selbst wenn am Ende ein unumgänglicher Abschied steht. Dank dir ist diese Artikelserie ein Denkmal dafür, dass wir Mut brauchen, uns bewusst mit unserer Endlichkeit auseinanderzusetzen, um gerade daraus Kraft, Inspiration und Humor für jeden neuen Tag zu schöpfen.
Vielleicht, Opa — vielleicht („May-be”) — findest du ja irgendwo da draußen doch noch einen Weg, diese Zeilen zu lesen, lächelnd den Kopf zu schütteln und mit einem verschmitzten Grinsen zu murmeln: „Na, technisch hättest du das auch nicht besser lösen können.”
Dir zu Ehren startet „Maybe” nun mit dem Thema Tod, um sich schrittweise voller Zuversicht dem Leben zuzuwenden. Weil du uns allen beigebracht hast — vielleicht gerade durch all die technischen Neuentdeckungen und Spielereien —, dass wir trotz unserer Vergänglichkeit stets offen für das Neue bleiben, keine Gelegenheit verpassen und nie unsere kindliche Begeisterung verlieren sollten.
Danke Opa, für deine inspirierende Lebendigkeit, Begeisterung und Wertschätzung für den Augenblick.
In tiefer Liebe und Dankbarkeit,
dein Enkel